2019 SoSe – Seminarstunde 09

Entstehung und Änderung von Theorien

Entstehung von Theorien

Wie kann eine neue Theorie entstehen?

  • Eine Person muss ein Ereignis wahrnehmen, das ihr bis jetzt noch unbekannt war.
  • Der Beobachter muss mit anderen Personen sprechen können.
  • Das Ereignis muss in der verwendeten Sprache formulierbar sein, so dass es von anderen Ereignissen, die im wahrgenommenen Umfeld des Ereignisses liegen, unterschieden werden kann.
  • Das in Frage stehende Ereignis muss unerwartet, anders oder neu erscheinen.
  • Es sollte nicht ohne weiteres der Fall sein, dass die betreffenden Personen das Ereignis durch lebensweltliche, praktische Zusammenhänge mit der Umgebung verbinden können (isoliertes Problem).
  • Die Person muss Interesse und eine Idee haben. Sie entwirft ein neues Modell, welches das Ereignis darstellt, es von anderen Ereignisse abgrenzt und mit anderen Ereignissen in Verbindung bringt. Die Person teilt dieses neue Modell Anderen mit.
  • Es muss der Fall eintreten, dass einige Personen diese neue Idee positiv aufnehmen.

Der Prozess

  • Eine Person nimmt ein für sie nicht erklärbares System – ein Ereignis, ein Phänomen – wahr.
  • Sie beginnt das System begrifflich zu analysieren. Sie verwendet dazu einige Worte, die sie bereits kennt und beschreibt einige Aspekte des Systems. Teile, Ob­jekte, Sachverhalte, Ereignisse des Systems und Prozesse, die innerhalb des Systems liegen und andere, die von und zur Umgebung führen, werden identifiziert und mit Bezeichnungen verse­hen.
  • Bei Prozessen werden möglichst allgemeine Ausdrücke verwendet, vor allem wenn Pro­zesse oder Teile davon wiederholt wahrgenommen werden. Durch allgemeine Ausdrücke wird es möglich, Hypothesen zu bilden.
  • In einem ersten Versuch wird ein Modell entworfen. Be­griffe für Grundmengen und Relationen werden gebildet, bestimmt, verwendet, «fest­gestellt». Mit diesen und eventuell mit bekannten, mathematischen Begriffen werden erste Hy­pothesen formuliert.
  • Gleichzeitig wird überlegt, ob es Methoden gibt, die bestimmte Teile, wie Objekte oder Sach­verhalte, genauer bestimmen können. Zusätzlich werden neue Methoden entworfen, mit denen man eventuell einige Prozesse in den Griff bekommen kann.
  • Auf diese Weise werden verschiedene Fakten produziert mit denen neue Hypothesen über­prüft werden können. In einem ersten Anlauf passen die Fakten eventuell nicht zu den neu erdachten Hypothesen, so dass an den Hypothesen gefeilt werden muss.
  • Spätestens nach dem diese Aktivitäten zu einem ersten guten Ende gekommen sind, muss die Person ihr neues Wissen mit anderen teilen. Dies kann positiv ausgehen, wenn Andere die In­formationen interessant und originell finden. Es kann aber auch passieren, dass der Erfinder keine Rückmeldung bekommt, obwohl er seine Resultate veröffentlicht hat. Das menschliche Umfeld kann sich neutral, interessiert, aber auch feindselig verhalten. Die Erfinder können sich in einer mehr kooperativen oder in einer ausgeprägten Wettbewerbssituation befinden.
  • Wenn ein erstes Modell existiert, andere Personen dieses Modell ebenfalls akzeptieren und wenn alle diese Personen das untersuchte Systeme oder mehrere davon tatsächlich kennenge­lernt haben und interessant finden, hat sich eine neue Theorie gebildet. Ein Modell, und damit formal eine ganze Menge möglicher Modelle, ein erstes intendiertes System und eine neu ent­standene Gruppe von Forschern bilden eine neue Theorie.
  • In einem nächsten Schritt wird der Anwendungsbereich der verwendeten Bestimmungsmethoden erweitert. Dies geschieht auf unterschiedlichen Weisen. Zum Beispiel kann das intendierte System in Wirklichkeit größer sein; am An­fang wurde aber nur ein zentraler Teil des Systems untersucht. In einem weiteren Schritt wird dann die Untersuchung auf weitere Teile des Systems ausgeweitet. In einem anderen Erweite­rungs­verfahren kann das Modell auf andere, ähnliche Systeme angewandt werden. Solche Möglich­keiten werden durch Kommunikation weiter vervielfältigt. Andere Interessenten oder Wettbe­werber treten auf den Plan. Die Theorie wächst. Neue intendierte Systeme, Fakten­sammlungen und weitere spezielle Hypothesen kommen hinzu.

Beispiel: Elektrizitätstheorie von Ohm

Als Beispiel für eine Theorie, die mehrere Anläufe brauchte um sich durchzusetzen, gilt die Elektrizitätstheorie von Ohm:

  • Im siebzehnten Jahrhundert war es Mode ein spezielles, paradigmatisches Phänomen zu untersuchen, nämlich das Zucken von to­ten Froschschenkeln und den damit verbundenen elektrischen Schlägen.
  • In der Periode zwischen 1650 und 1830 wurden verschiedene elektrische Phänomene ent­deckt, die durch mehrere Arten von teilweise inhomogenen Formulierungen beschrieben wur­den.
  • Die intendierten Systeme der Ohmschen Theorie lassen sich in einer üblichen Formulierung über Elektrizität etwa so ausdrücken. Ein intendiertes System besteht aus einer Stromquelle, einer Batterie (mit zwei Polen + und -), aus einem elektrischen Leiter, aus einem Kabel, dessen Enden mit den beiden Polen «kurzgeschlossen» werden können und aus einer fast strom­undurchlässigen Substanz. Der Leiter ist durch die Substanz isoliert; die Elektrizität bleibt im Stromkreis.
  • Von Ohm wurde hierzu ein Modell entworfen. Die dazugehörige Hypothese wird heute meist so formuliert: I = U / R. I ist die Stromstärke, U die Spannung und R der Widerstand – relativ zu einem bestimmten Stromkreis. Ein Stromkreis ist anders gesagt ein intendiertes System für die Ohmsche Theorie und wird durch diese drei Größen beschrieben.

Wichtige Komponenten der Entstehung von Theorien

Paradigmatische PhänomeneBeispiele von wichtigen Ereignissen
Typen paradigmatischer PhänomeneWichtige Ereignisse gleichen Typs
BegriffeWörter, Ausdrücke, Terme
ModelleListen von Grundmengen, Hilfsbasismengen und Relationen
FaktenVariablenfreie Ausdrücke ohne Junktoren und Quantoren
HypothesenÜberprüfte, allgemeine Sätze
Bestimmungs- und MessmethodenVerfahren zur Bestimmung und Messung von Größen
ApproximationÄhnlichkeitsbestimmung
DimensionenEbenen, Bereiche
ProblemeSysteme, die nicht zu Hypothesen oder Fakten passen oder deren Einordnung auf begrifflicher Ebene oder in Dimensionsräumen unklar ist

Änderung einer Theorie

Theorien werden verändert durch:

  • Änderung der Grundmengen aus den Faktensammlungen der Theorie
  • Änderung der Relationen aus einer Faktensammlung
  • Änderung von Definitionen zu den Hypothesen
  • Änderung von Verknüpfungen

Veränderung einer Menge

Einführung

Die Veränderung einer Menge lässt sich in zwei Schritten erklären.

Erstens benötigen wir für eine Veränderung ein Paar 〈 X, Y 〉 von Mengen, so dass sich die erste Menge X so verändert hat, dass sie zu einer anderen Menge Y geworden ist.

Zweitens muss der Ausdruck X verän­dert sich zu Y genauer bestimmt werden. Dazu gehen wir von zwei gegebenen Mengen X und Y aus. Der Ausdruck X verändert sich zu Y erfüllt per Definition zwei Bedingungen:

  • Die Mengen X und Y sind verschieden ( X ≠ Y ).
  • Die meisten Elemente von X gehören auch zu Y und die meisten Elemente von Y gehören auch zu X.
Beispiele
  • In der Gravitationstheorie wurde im Jahre 1930 ein neuer Planet entdeckt, der den Namen Pluto bekam. Die kleinen und im Sonnensystem weit außen liegenden Planeten wurden erst spät entdeckt da geeignete Messinstrumente erst erfun­den werden mussten. Die Himmelskörper selbst haben sich nicht geändert haben, es fand eine Veränderung auf der Ebene der Theorie statt. Das «Objekt» Pluto bekam nach einiger Zeit einen Namen und dieser Name wurde in die Liste der Planeten aufgenommen. Im Jahre 2006 wurde Pluto der Planetenstatus von der International Astronomical Union (IAU) wieder aberkannt. Die Menge der Planeten hängt daher nicht nur von den realen Verhältnissen ab, sondern auch von den Aktivitäten der Wissenschaftlergrup­pen, welche die Theorie untersuchen.
  • In der Zellbiologie wird in einem Laborexperiment eine Zellkultur angelegt und mit einem Namen versehen. Eine Faktensammlung der Theorie enthält eine Menge von Basisereignissen, in diesem Fall Zellkulturen. Eine neue Zellkultur wird der Menge von schon untersuchten Zellkulturen hinzugefügt. Auch die Zellkultur hat im Prinzip die Form eines Ereignisses: die Zellkultur wächst. Auf der Sprachebene wird eine Liste von Namen von Zellkulturen geführt. Auf der Ebene der Mengen wird die neue Zellkultur zur Menge der Zell­kulturen hinzugefügt. Die Menge der Basisereignisse aus diesen Faktensamm­lungen hat sich damit verändert.
  • In der Ökonomie werden Oligopole untersucht, das heißt Märkte, in denen es nur wenige oder nur zwei Anbieter gibt. In wirklich untersuchten Anwendungen wird zum Beispiel ein neues Unternehmen gegründet. Dieses neue «Objekt» wird einer Menge von Basisereignissen der zugehörigen Faktensammlungen hinzugefügt. Die Theorie der Oli­go­pole hat eine kleine Veränderung erfahren.
Formale Darstellung

In diesen Beispielen ist in allgemeiner Formulierung eine Grundmenge Giz zu einer anderen Grundmenge Giz+1 geworden. Giz hat sich zu Giz+1 verändert Diese Veränderung lässt sich auf zwei Grundveränderungen zurückführen:

  • Erstens kann Giz+1 aus Giz entstehen, wenn aus der Sicht von Giz ein neues Element e zu Giz hinzugefügt wird: Giz+1 = Giz ∪ {e}.
  • Zweitens kann ein Element aus Giz entfernt werden: Giz+1 = Giz ∖ {e}.

Aus diesen beiden Grundänderungen lässt sich zum Beispiel eine Ersetzung definieren. Ein Element e wird aus Giz entfernt und dann wird der so entstehenden Menge ein neues Element e* hinzugefügt.

Wird eine Element entfernt, so muss darauf geachtet werden, dass auch Teile der Relationen aus der Faktensammlung entfernt werden. Das Faktum d kann zum Beispiel ein Sachverhalt aus der Relation Rjz zum Zeitpunkt z sein und eine konkrete Beziehung zu anderen Elementen haben. In solchen Fällen muss diese Beziehung aus der Relation Rjz ebenfalls entfernt werden, da in einer Faktensammlung nur wirkliche Beziehungen geführt werden.

Veränderung von Komponenten eines Modells

 Bei einer Grundmenge Di
wird etwas
Bei einer Relation Rj
wird etwas
Ebene der Faktensammlungenhinzugefügthinzugefügt
entferntentfernt
ersetztersetzt

Hinzufügen einer Definition zu den Hypothesen

Bei einer weiteren Veränderungsart wird eine Definition zu den Hypothesen der Theorie hin­zugefügt. Zur Theorie kommt ein neuer Begriff hinzu, welcher einerseits auf die schon verwendeten Grundbegriffe zurückgeführt wird, der aber andererseits bei der Beschreibung einer Hypo­these so viel Formulierungsaufwand einspart, dass dieser eigentlich redundante Begriff trotz­dem explizit als Teil der Theorienbeschreibung gesehen wird.

Im Beispiel der Partikelmechanik wird im Modell 〈 P, T, ℜ, ℜ3 ,s ,m , 〉 die zentrale Hypothese  = m × a verwendet (Kraft = Masse x Beschleunigung), in der die Ortsfunktion s nicht erscheint. Der Begriff a der Beschleunigung wird in dieser Theo­rie explizit aus der Ortsfunktion definiert. Die Definition hat die Form F( P, ℜ, ℜ3, s, a ) eines satzartigen Terms. Inhaltlich ist P die Grundmenge der Partikel. Die Menge der Zeitpunkte des Modells sind mit dem mathematischen Raum ℜ gleichgesetzt. ℜ und ℜ3 sind Hilfs­basismengen, welche die Zeit und den Raum darstellen. In dieser Definition wird die Funktion s zweimal differenziert. Aus der Ortsfunktion s wird die Geschwindigkeitsfunktion v. Die Funktion v wird explizit aus s definiert: v = Ds oder genauer: für alle p und z gilt: v( p, z ) = Ds( p, z ). Im zweiten Schritt wird die Geschwin­digkeitsfunktion v differenziert. So entsteht die explizit definierte Beschleuni­gungsfunktion a:
a = Dv = D2s und für alle p und z gilt: a( p, z ) = D2s( p, z ).

Hinzufügen einer neuen Verknüpfung

Als weitere Änderung wird bei einem Modell eine neue Verknüpfung (engl. Link) hin­zu­gefügt. Im einfachsten Fall ver­knüpft ein Begriff aus der gegebenen Theorie T einen anderen Begriff aus einer weiteren The­orie T*. Auch die Verknüpfungsrelation hängt von den Modellen ab. Eine Relation aus einem Modell der Theorie T wird mit einer Relation eines Modells der Theorie T* verknüpft.

Verknüpfung lässt sich genauer wie folgt definieren. Dabei sind zwei Theorien T und T* mit ihren Modellen M und M* und den dazugehörigen Strukturen 〈 κ, μ, ν, τ1, …, τν 〉 und 〈 κ*, μ*, ν*, τ*1 ,…, τ*ν* 〉 gegeben. Eine Verknüpfungshypothese hat die Form V( R, R*, x, x*, ti, t*j ).

Dabei ist V eine Formel, x und x* sind Modelle aus M und M* und τi und τ*j sind die Typisie­rungen der Relationen R und R*. R muss die i-te Relation von x und R* die j-te Relation von x* sein und die Formel V( … ) muss den obigen Term erfüllen. Ein Paar solcher Relationen R und R* stellt eine konkrete Verknüpfung von Relationen (relativ zu gegebenen Theorien) dar. Wir können daher auch von einer Verknüpfung eines Begriffs von T mit einem Begriff von T* sprechen.

Relativ zu i und j ist R mit R* verknüpft genau dann wenn es Modelle x ∈ M und x* ∈ M* und Typisierungen τi und τ*j gibt, so dass gilt:

  • R ist durch τi und R* durch τ*j typisiert
  • R ist die i-te Relation von x und R* ist die j-te Relation von x*
  • R und R* erfüllen die Verknüpfungshypothese V( R, R*, x, x*, τi, τ*j ).